Der Antidepressive – Richard Kämmerlings über William Saroyan

Wie soll man von einem Ort erzählen, an dem nie etwas passiert? Wie von Menschen, denen nie etwas Besonderes widerfährt? Außer dass sie irgendwann sterben, was auch nur für sie persönlich etwas Besonderes ist, denn jeder muss sterben. Also ist es auch alltäglich, statistisch gesehen. Aber verrät nicht jede Statistik den Einzelfall? Und ist der Einzelfall nicht gerade deswegen das wichtigste Thema der Literatur?

Von William Saroyan sind eine Menge Bonmots überliefert, eines der schönsten und für ihn wiederum typischsten diktierte er Journalisten kurz vor seinem Tod am 18. Mai 1981 in das Notizbuch: »Jeder muss sterben, aber ich habe immer geglaubt, in meinem Fall würde eine Ausnahme gemacht. Und was nun?« Damit hat sich Saroyan für die Nachrufe einen schönen Joke reserviert, eine selbstironische Charakterisierung als exzeptioneller Schriftsteller – und als Mensch. Doch es steckt mehr dahinter. Der Satz enthält zugleich das große Thema seiner Literatur, die Spannung zwischen Individualität und Allgemeinheit, zwischen der Würde jedes Einzelnen und der alle Unterschiede nivellierenden Massengesellschaft, die große Schicksale und außergewöhnliche Lebensereignisse nicht mehr zuzulassen scheint.

Das Wettbüro des Kentucky Pool Room in San Francisco ist so ein Ort, wo tagaus, tagein dasselbe geschieht oder eben nicht geschieht: »Wetten werden abgeschlossen, ein paar Glückliche kassieren, aber auf lange Sicht verlieren alle«, heißt es in der Geschichte »Die kleine Miss Universe«. Ausgiebig beschreibt der Erzähler drei der Dauergäste und ihr je spezielles System der Prognose: Mr. Levin, genannt »das Fass«, ein »trister Realist«, der vor seiner Wahl sämtliche verfügbaren Informationen über Rennställe, Jockeys etc. auswertet. Der junge Willie, ein Mystiker, der gegen jede Vernunft und Wahrscheinlichkeit seinem Gefühl für Außenseiter folgt. Und San Jose Red, ein nervöser, älterer Herr, dessen untrügliches Gespür für den Sieger sich aus der Gewohnheit herleitet, immer erst nach dem Rennen aufzukreuzen, mit der triumphierenden Geste des Ich-hab-es-doch-gleich-gesagt. Drei Menschen, drei »echte Leute aus Fleisch und Blut«, die der Erzähler nach eigener Aussage genauso gut hätte fotografieren können, wenn er seine Kamera nicht gerade beim Pfandhaus abgeliefert hätte. Das soll man durchaus als kleinen ironischen Seitenhieb auf einen dokumentarischen Realismus lesen, der das trostlose Leben eins zu eins und damit eben auch trostlos wiedergibt.

Saroyan erzählt also von drei außergewöhnlichen Menschen in einem zutiefst gewöhnlichen Setting – wenn sich die Geschichte als Abbildung der Wirklichkeit verstünde, als »Dokument«, dann müsste sie hier enden, so der Erzähler, das aber sei »kunstlos«: »Was soll denn das für eine Story sein?, würden die Leser sich fragen. Keine Handlung, kein Ausgang, kein Höhepunkt, nichts Spannendes.« Also folgt doch noch eine Zuspitzung, die Story um das Rennpferd »Miss Universe«. Doch es ist eine Geschichte über ein außergewöhnliches Ereignis, das gerade nicht eintritt. Über einen Außenseiter, der, nun ja, eben verliert, wie zu erwarten war. Und mit ihm nicht nur Willie, der mystische Pferdewetter, sondern auch der Erzähler selbst, der sich von Willies Begeisterung hat hinreißen lassen. »Auf lange Sicht verlieren alle.« Doch die lange Sicht ist nicht unbedingt die entscheidende, nicht in der Literatur und vielleicht auch nicht im Leben. Ein kurzfristiger Triumph kann nicht nur der Short Story Ewigkeit verleihen, sondern auch ein ganzes Leben mit Glanz überziehen. In der Titelgeschichte »Wo ich herkomme, sind die Leute freundlich« ist es das unfassbare Glück eines unter dem Vorwand einer Probefahrt erschummelten Ausflugs auf einer Harley Davidson, der den Erzähler seine deprimierende Lage vergessen lässt: »Ich ging hinaus und geradewegs zu meiner Bude, und ich hielt kein einziges Mal inne, um darüber nachzudenken, wo ich bloß einen Job finden konnte.«

William Saroyan wurde während der Great Depression zum Autor der Stunde in Amerika und löste damit unter anderem F. Scott Fitzgerald ab, dessen Beschwörungen eines materiell sorglosen, mondänen Lebens im Jazz Age der Zwanziger in der Ära der Weltwirtschaftskrise anachronistisch wirkten – ein Wechsel der gesellschaftlichen Stimmung, von dem sich Fitzgerald als Schriftsteller nicht mehr erholte. Als Saroyan 1935 mit dem Band ›The Daring Young Man on the Flying Trapeze‹ debütierte, traf er den Nerv der Zeit. Er sprach für keine »Lost Generation« aus feiernden, um die Welt reisenden und um die eigene innere Leere kreisenden Bohemiens, sondern für die einfachen Leute, die verzweifelt versuchten, sich von den schweren Zeiten nicht unterkriegen zu lassen und festen Boden unter die mangelhaft beschuhten Füße zu bekommen.

Die Pferdewetter im Kentucky Pool Room haben gar kein Geld, das sie auf ihre Träume setzen könnten, und addieren die grandiosen Gewinne daher immer nur im Irrealis. Und als der Erzähler seinen letzten Dollar aufs falsche Pferd setzt, bleibt ihm nur noch auszurechnen, wie weit er mit seinem halben Laib Brot und dem Viertelpfund Kaffee kommt: »Wenn ich pro Tag nur eine Scheibe Brot esse und zum Frühstück nur eine Tasse Kaffee trinke – dann müsste ich es eigentlich schaffen können.«

Für William Saroyan kamen Armut und Entbehrung nicht erst mit dem Black Friday in die Welt. Geboren wurde er 1908 als Sohn armenischer Emigranten im kalifornischen Fresno; der Vater starb, als William drei Jahre alt war. Weil die Mutter für den Lebensunterhalt sorgen musste, kamen er und seine Geschwister für fünf Jahre in ein Waisenhaus. Schon als Jugendlicher musste er sich mit Gelegenheitsjobs durchschlagen, Erfahrungen, die in unverstellter Form in sein Werk eingegangen sind, siehe als eines von unzähligen Beispielen die Geschichte des Telegrafenboten in »Der Mann, der fett wurde«.

Dem Ethos des Arbeiters, der unermüdlich, quasi am Fließband Texte produziert, hing Saroyan sein Leben lang an – was die andere Seite seines hallodrihaften, ostentativ sorglosen Habitus war. Ein gefundenes Futter für die Yellow Press waren Ehe und Rosenkrieg mit der Schauspielerin Carol Grace, die er gleich zweimal heiratete, worauf zweimal die Scheidung folgte (später heiratete sie Walter Matthau und rechnete in ihrer Autobiografie von 1992 verbittert mit der Untreue und Trunksucht ihres ersten – und zugleich zweiten – Ehemannes ab).

Bei aller Lebemann-Attitüde war Saroyan ein äußerst fleißiger Viel- und auch ein Schnellschreiber, stolz darauf, in einer Woche ein preisgekröntes Theaterstück in die Tasten gehauen zu haben. Doch der Parlando-Ton seiner Prosa und das scheinbar Absichtslose, Zufällige, können leicht darüber hinwegtäuschen, dass seine besten Geschichten sehr genau kalkuliert und konstruiert sind. An künstlerischem Selbstbewusstsein mangelte es ihm sicherlich am Allerwenigsten, Saroyan hielt sich schließlich für einen der wichtigsten Autoren des Jahrhunderts. »Mit einem Wort, ich bin bedeutend, und ich bin stolz darauf, bedeutend zu sein«, schreibt er in seiner Autobiografie ›Here Comes, There Goes, You Know Who‹ (Barricade, New Jersey 1962). Dass er einmal Geschriebenes aber niemals einer Überarbeitung bedürftig befand, mag auch ein weiterer sorgfältig gepflegter Genie-Mythos sein.

Überhaupt sollte man Saroyan bei Selbstauskünften nicht allzu sehr beimWort nehmen, schon gar nicht, wenn sie wie in der Geschichte »Siebzigtausend Assyrer« quasi auf dem Silbertablett serviert werden: »In diesem Werk wird nichts passieren. Ich erfinde keine ausgefallene Handlung. Ich schaffe keine denkwürdigen Figuren. Ich bediene mich keines raffinierten Stils. Ich erzeuge keine dichte Atmosphäre. Ich habe nicht den Wunsch, diese oder irgendeine andere Geschichte der Saturday Evening Post, dem Cosmopolitan oder Harper’s zu verkaufen. Ich versuche nicht, mit den großen Autoren zu konkurrieren. (…) Wenn ich überhaupt irgendeinenWunsch habe, dann den, zu zeigen, dass alle Menschen Brüder sind.«

Was hier wie ein Manifest klingt, ist Rollenprosa, die idealistische Rede eines jungen Schriftstellers (in dem sich Saroyan vielleicht selbst als Novizen porträtiert haben mag). Denn wenn auch auf eine »ausgefallene Handlung« in vielen seiner Geschichten verzichtet wird (nicht in allen, man nehme etwa »Zweitausendvierhundert Dollar und ein paar Zerquetschte für Freundlichkeit« oder »Unsere kleinen braunen Brüder, die Filipinos«), so findet sich in den meisten doch eine »dichte Atmosphäre« und sehr »denkwürdige Figuren«: Wieder mag der filipinische Wrestler mit dem sehr denkwürdigen Kampfnamen Ramon Internationale als Beispiel dienen, dessen stures Beharren auf dem Sieg im abgekarteten Spiel zum Symbol der Selbstbehauptung einer Minderheit wird.

In den »Siebzigtausend Assyrern« ist es der Friseur, in dessen Schicksal sich der armenische Autor spiegelt: Der türkische Genozid an seinem Volk, vor dessen Vorboten schon Saroyans Eltern flohen, findet noch einmal eine apokalyptische Steigerung in der Erzählung des Friseurs Badal, dessen ganzes Volk vor der Auslöschung steht: »Siebzigtausend Assyrer auf der ganzen Welt, und die Araber bringen uns trotzdem noch um.« Es ist ein typischer Saroyan-Move, wie er selbst aus dieser unüberbietbaren Trauer noch ein Zeichen der Hoffnung macht, eine Beschwörung jenes Teils der Menschheit, »der sich nicht vernichten lässt«: »Ich denke an Theodore Badal, der siebzigtausend Assyrer und siebzig Millionen Assyrer, Assyrien und die Menschheit verkörpert, wie er 1933 in einem Friseursalon in San Francisco steht und trotzdem, er persönlich, ein ganzes Volk ist.«

Auch Saroyan ist ein ganzes Volk, als berühmter Schriftsteller reiste er nach Armenien, ließ sich dort feiern und später (jedenfalls die Hälfte seiner Asche) dort bestatten. Eine skurrile Episode seiner Biografie ist ein Pop-Hit des Jahres 1951, ›Come on-a My House‹ von Rosemarie Clooney, den Saroyan mehr als zehn Jahre früher zusammen mit seinem Cousin nach einem armenischen Volkslied komponiert hatte. Das Erbe armenischer Erzähler und Sänger hat er auch für sein extrovertiertes Wesen in Anspruch genommen: »Wenn ich zu viel rede, ist es ein kulturelles Problem.« Aber auch das war vielleicht eine ironische Reaktion auf gängige Vorurteile. Das bunte Milieu seiner Herkunft, die Welt der Emigranten aus aller Welt und besonders das der armenischen Community – sein Heimatort Fresno war ein Zentrum der Exil-Armenier – blieben die Hauptquellen seines Schreibens. Wie vor allem die ersten Generationen von Einwanderern oft auf landsmannschaftliche Verbindungen angewiesen bleiben, so hat auch Saroyan literarisch seine Wurzeln bis in sein Spätwerk gepflegt (sein früh verstorbener Vater hatte ein Konvolut von Texten in armenischer Sprache hinterlassen und die Berufswahl seines Sohnes damit mitbestimmt).

An das Erbe seines Volkes hat Saroyan nicht nur aus Sentimentalität angeknüpft, sondern sicher auch, weil die armenischen Charaktere mit ihrem hintersinnigen, dem jüdischen verwandten Humor, ihrer Erzählfreude und ihrer sophistischen Lebensphilosophie das ideale Medium für sein künstlerisches Projekt waren: Die Zumutungen des Alltags und die Schläge des Schicksals durch ihre Verwandlung in Literatur erträglich zu machen und sogar zu einer quasireligiösen Rechtfertigung des Daseins zu veredeln.

Das gelingt natürlich im Rückblick am besten, etwa in der wunderbaren Kindheitsgeschichte »Fünf reife Birnen«, in der der Sechsjährige in der Schulpause die verbotenen Früchte pflückt und dafür eine Tracht Prügel vom Direktor kassiert. Was zählt, ist nicht die Strafe, sondern das Gelingen zuvor: »Es war ein Abenteuer. Außerdem Kunst. Außerdem Religion, denn diese Form von Diebstahl war eine Form von Anbetung. Und es war Forschung.« Saroyan macht aus der kleinen Alltagsszene eine Epiphanie, einen frühen Einbruch der Transzendenz in ein von Hunger und Verzicht geprägtes Diesseits. »Aber es ging nicht um das Essen. Sondern um das Berühren, das Spüren und Erkennen: der Birne. Des Lebens – seiner Summe –, das vergehen konnte. Es ging um das Wissen und Unsterblich-Machen.«

So versteckt Saroyan im Birnenklau des Grundschülers zugleich eine Parabel seiner Kunst: Es geht ihm um das Erhaschen eines Augenblicks, in dem sich das der bloßen Vernunft verborgene Geheimnis der Existenz enthüllt. Die Meisterschaft von Saroyan zeigt sich daran, dass die Wirkung seiner Geschichten niemals nur in ihrer jeweiligen lokalen und gesellschaftlichen Sphäre bleibt – das wäre im schlimmsten Fall Sozialkitsch, ein Zukleistern von Elend und Verzweiflung. Doch selbst eine scheinbar so genau verortete Story wie »Die Revolution« erzählt in Wahrheit von der Diskrepanz zwischen Ideologie und Taten, zwischen naiver jugendlicher Überzeugung und Lebenserfahrung. Von einer ersten, konkret schmerzhaften Desillusionierung, der noch viele folgen werden.

Wie aus dem Alltäglichen das Wundersame hervorgehen kann oder wie in der Distanz der Erinnerung das Alltägliche immer wundersamer erscheint, demonstriert »Lokomotive 38, der Ojibwe-Indianer«. Der scheinbar verrückte Indianer auf dem Esel, der sich als Millionär entpuppt und sich vom verdutzten Kleinstadt-Kid in einem Traumauto herumfahren lässt – das ist eine großartige Fantasie, eine Variation über das Thema von jugendlichen Sehnsüchten und höchst unwahrscheinlicher Erfüllung, eine Lektion in Lebensweisheit, die darauf besteht, dass nichts unmöglich ist. Allerdings zugleich auch kein Glück von Dauer.

In der Nachkriegszeit konnte Saroyan an seine früheren Erfolge nicht mehr anknüpfen und machte mehr durch Eheskandale und Steuerschulden auf sich aufmerksam als durch seine immer noch in hoher Frequenz entstehenden Geschichten und Theaterstücke (noch 1940 leistete er es sich, den Pulitzerpreis für sein bekanntestes Stück ›The Time of Your Life‹ mit der Begründung abzulehnen, Geschäftsleute sollten nicht über Kunst urteilen). Das lag sicher auch daran, dass Saroyan zeitweilig nach Europa zog, nicht zuletzt um sich vor der US-Steuerbehörde in Sicherheit zu bringen.

Will man eine sozialhistorische Begründung für seine schwindende Popularität finden, so höchstens die, dass die trotzig-optimistischen Geschichten aus der Unterschicht im prosperierenden Amerika der 50er und 60er an Relevanz verloren hatten. Vielleicht ist es aber auch einfach so, dass Saroyan in der kurzen Form am besten war und sich in der Liga der allergrößten Autoren seiner Generation dann doch Romanciers à la William Faulkner oder Saul Bellow behaupteten. Vom ewigen Klassenprimus Hemingway einmal abgesehen, an dessen Ruhm sich Saroyan ständig abarbeitete – siehe die Seitenhiebe gegen dessen Stierkampf-Essay »Tod am Nachmittag« in der »Assyrer«-Story (»Hemingway ist selbst da, wo er ein Dummkopf ist, zumindest ein akkurater Dummkopf«) oder in »Die kleine Miss Universe«.

Der späte Gottfried Benn behauptete, auch die großen Lyriker hätten nicht mehr als fünf oder sechs wirklich gelungene Gedichte geschrieben. Wenn das auch für Kurzgeschichten-Autoren gilt, dann ist William Saroyan ohne Zweifel ein großer Schriftsteller gewesen: Dieser Band versammelt ausreichend Beispiele dafür. Man muss für ihre bleibende Aktualität gar nicht erst die aktuelle Politik bemühen, die reaktionären Tendenzen, die – in Europa wie in Amerika – die ethnische oder religiöse Vielfalt wieder im Geist chimärischer nationaler Identitäten begrenzen oder gar rückgängig machen wollen – auch wenn im Vergleich der migrantischen Erfahrung über ein Jahrhundert hinweg ein zusätzlicher Reiz für die Wiederentdeckung liegen mag. Es ist ein Bild der Vereinigten Staaten, deren große, befreiende Idee bereits früher über die abweichende Wirklichkeit obsiegen konnte: Amerika, die Wunderschöne, die bunte, weltumspannende Nation.

Aber die literarische Qualität von Saroyans Geschichten liegt nicht nur in ihrem moralischen Appellcharakter, sondern ist von überzeitlichem Wert. Sie demonstriert und feiert die störrische Behauptung des Individuellen, die Weigerung des Menschen gegen seine Verrechnung und Verwertung, gegen sein restloses Aufgehen in dem, was unsere digitalisierte Gegenwart als Algorithmus vergöttert. Um auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Verrät nicht jede Statistik den Einzelfall? Und ist der Einzelfall nicht gerade deswegen das wichtigste Thema der Literatur? Die Frage stellt sich heute wie damals.

In »Der Versicherungsvertreter, der Bauer, der Teppichhändler und die Topfpflanze«, sicher eine der merkwürdigsten Geschichten des Bandes, versucht ein Armenier einem anderen eine Lebensversicherung zu verkaufen. Dem Kunden, einem siebenundsechzigjährigen Bauern, kommt er mit dem Argument, statistisch gesehen sei er in fünf Jahren tot. Das sei also eine lohnende Investition. Der Bauer aber lässt sich nicht überzeugen: »Was für ein Tod? Warum sollte ich sterben? Aus welchem Grund, mein Landsmann? Ich habe es nicht eilig. Geld? Ja, das ist gut, aber ich werde nicht sterben.« Eine bauernschlaue Logik, vormodern vielleicht und irrational, aber jeder Einzelne von uns ist mehr als bloße Vernunft, als ein wissenschaftlich erfassbares Bündel von Eigenschaften, mehr als Teil einer Gesellschaft, Teil eines Volkes, einer Familie. Jeder ist einzigartig, und jeder ist es wert, dass man eine Geschichte über ihn erzählt. Leider kann das nicht jeder so gut wie Saroyan.

Die Great Depression ist nicht nur eine Epoche, sondern auch ein Geisteszustand der Mutlosigkeit und der tiefen Verzweiflung, der jederzeit wiederkehren und sowohl Einzelne als auch eine ganze Gesellschaft befallen kann. Saroyans Geschichten sind ein Gegenmittel, ein literarisches Anti-Depressivum, dessen Wirkung nicht vollständig zu erklären, aber gut nachzuweisen ist.

Die Vereinigten Staaten haben das vielleicht gerade wieder besonders nötig, aber auch die deutschsprachigen Leser können Stimmungsaufhellung gut gebrauchen. William Saroyan ist Produkt und Chronist des amerikanischen Schmelztiegels, der weiß, dass ein Volk aus Millionen Individuen besteht und ein Individuum aus vielen Stimmen. Erst heute kann man ihn richtig verstehen. Gerade heute brauchen wir ihn!

Richard Kämmerlings
Berlin, im April 2017